Lose Notizen zu Poetry-Slam-Theorie bzw. Plädoyer für eine neue Spannungskultur des Slam
Bislang konnte sich die Poetry-Slam-Theorie nur auf einige wenige Parameter einigen, die echte Verbindlichkeit beanspruchten. Einig ist man sich selbstverständlich darüber, dass ein Poetry Slam eine Veranstaltungsform bezeichnet, auf der selbstverfasste Texte vorgetragen werden, die von einem Publikum bewertet werden.
Daraus leiten sich – nach meinem Verständnis und dem vieler KollegInnen – unter anderem folgende, an dieser Stelle vielleicht etwas abstrakt formulierte, Prämissen ab (die sich selbstverständlich zum Teil ergänzen und/oder überschneiden): Literarizität (die vorgetragenen Texte tragen Merkmale des Literarischen; wobei wiederum zu diskutieren ist, was ‚das Literarische‘ sei), Oralität (die Texte werden mündlich vorgetragen), Performativität (der Text wird durch den Vortragenden gestaltet), formale Freiheit (alle Texte sind zugelassen), Regularität (es gelten bestimmte Bedingungen, beispielsweise ein Zeitlimit), Kommunikativität (der Poet spricht zum Publikum), Agonalität (die Poeten stehen untereinander im Wettbewerb), Singularität (die Veranstaltung findet – im Gegensatz etwa zu einem Theaterstück – nur einmal in genau dieser Form statt), raumzeitliche Begrenzung (der Slam findet an einem Ort statt, beginnt irgendwann und hört irgendwann wieder auf), hierarchisch strukturierte Multiagentialität (es sind verschiedene Personengruppen beteiligt, von denen einige die Veranstaltung stärker dominieren als andere), dazugehörig: Vorhandensein einer Steuerungs- und Supervisionsagentur (der Slammaster lenkt den Abend, achtet auf die Einhaltung der Regeln), Offenheit (Zurufe, Pannen, Improvisationen usw. kommen vor und werden in den Abend eingespeist), Aleatorik (die Reihenfolge der Auftretenden wird ausgelost), Nicht-Alltäglichkeit/Ästhetisierung (die Veranstaltung überführt den Rahmen des gewohnten Lebensweltlichen ihn den Rahmen der Kunstvermittlung), Personalunion von Autor und Vortragendem sowie dazugehörig: Inszeniertheit/Rollenwechsel (die Auftretenden werden, bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, als Auftretende wahrgenommen und entsprechend anders bewertet).
Natürlich können einige dieser Faktoren aufgeweicht werden: So gibt es Haiku-Slams, auf denen das Primat der Formfreiheit nicht mehr gilt; Slam-Shows ohne Wettbewerbsdruck, Auslosung oder Slammaster, die in gleicher Weise wiederholt werden können (und damit nicht mehr singulär sind) – wobei man freilich argumentieren könnte, dass es sich gerade bei den letztgenannten Slam-Shows nicht mehr um Slams im eigentlichen Sinn handelt.
Darüber hinaus existieren einige andere Faktoren, die gerne mit Slam in Zusammenhang gebracht werden, die aber zu problematisieren sind.
Dies betrifft beispielsweise die Interaktivität zwischen Performer und Publikum (wie sie beispielsweise in Preckwitz‘ ‚Interaktionsästhetik‘ des Slam eine zentrale Rolle spielt): In zahlreichen Fällen findet diese Interaktion nämlich gar nicht statt, da das Publikum in deutlicher Distanz zu den Auftretenden sitzt und nicht in den Vortrag eingreift oder sonstiges Feedback liefert. Die einzige Interaktion besteht in solchen Fällen darin, die Vorträge der Performer zu bewerten; eine zumindest eher schwache und punktuelle Form des Eingreifens in den Veranstaltungsablauf.
Auch liest man (so bei Petra Anders), die bei Slams vorgetragenen Texte seine ‚verständlich‘ und der ‚Lebenswelt‘ der Zuhörer nahe: eine Behauptung, die zumindest von einigen Laut- oder Lyrik-Performern schnell widerlegt werden dürfte. Überhaupt stehen alle Aussagen über wiederkehrende Stile, Mittel und Themen, über Genre-, Gattungs- oder andere Zugehörigkeiten unter der akuten Gefahr, prompt durch Gegenbeispiele widerlegt zu werden; ein Grund übrigens dafür, warum sich der Begriff ‚Slam Poetry‘ für eine bestimmte Literaturform nur schwerlich wird etablieren lassen (s. dazu unten) – außer in einer ganz allgemeinen Formulierung, nämlich als ‚Texte, die bei Slam-Veranstaltungen zum Vortrag kommen‘.
Ebenfalls bei Petra Anders ist die Rede von der Intertextualität vieler Slam-Texte, d.h. davon, dass die entsprechenden Autoren sich in ihren Texten aufeinander bezögen. Eine wichtige Beobachtung, die aber nicht verallgemeinert werden darf (und von Anders, notabene, auch nicht verallgemeinert wird).
Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die demokratisch-egalitäre Komponente des Slam, die auch immer dann besonders betont wird, wenn es darum geht, die politischen und gesellschaftskritischen Meriten der Veranstaltungsform herauszustellen. Die Bühne stehe jedem offen, heißt es, jeder erhalte gleich viel Zeit und Aufmerksamkeit. Dies wird spätestens da in Frage gestellt, wo die Veranstalter (bei den meisten Slams der Fall) einige ihrer Favoriten schon im Vorfeld einladen oder für den Vortrag ankündigen, während andere Teilnehmer ausgelost werden. Auch das Credo der Chancengleichheit wird spätestens bei der berüchtigten Frage brüchig, ab ein Performer noch Chancen auf den Sieg hat, wenn er als Erster auf die Bühne gelost wird.
Ich würde an dieser Stelle gerne einige der genannten – verhandelbaren wie unverhandelbaren – Faktoren rund um Poetry Slam und Slam Poetry reformulieren, und zwar in einer Form, die mir sinnvoller scheint, um die These zu stützen, dass Slam vor allem aus verschiedenen Spannungsgeschehen besteht. Dabei ist es nötig, verschiedene Ambivalenzen aufzuzeigen, die ich als die eigentlichen Dynamisierungsimpulse des Slam verstehe, sei es während der Veranstaltung selbst oder im Diskurs darüber. Slam gib sich auf diese Weise als Netzwerk zu verstehen, das aus verschiedenen, spannungsreichen Dichotomien besteht, die in ihrer Gesamtheit ein Format ausmachen, das in den letzten Jahren – völlig zu Recht – so viele Liebhaber, Beteiligte, Kritiker und Neider angezogen und eigene Kultfiguren hervorgebracht hat.
Ich möchte die folgenden Unterpunkte (unter denen auch Aspekte zur Sprache kommen, die bislang nicht genannt wurden) vor allem in Fragen ausformulieren, weil ich denke, dass dies das geeignete Mittel ist, um die Spannungen, um die es mir hier geht, zu verdeutlichen.
Gleichzeitig sind dies genau die Fragen, die ich zum jetzigen Zeitpunkt weder beantworten kann noch will, von denen ich mir aber wünsche, dass sie in der Slam-Theorie in Zukunft eingehender diskutiert werden.
Von welchen Dichotomien spreche ich genau?
1. Oralität vs. Literarizität
Die Beiträge auf Slam-Bühnen werden mündlich vorgetragen und in der Regel durch performative Elemente unterstützt. Gleichzeitig werden Slams als Literaturveranstaltungen beworben und verstanden; wobei Literatur (schon vom Wortstamm her) als Begriff die schriftliche Fixierung konnotiert. Inwiefern lässt sich Slam also als ‚literarisch‘ bewerten? Oder zielt schon diese Frage am Kern des Formats vorbei?
2. Inhalt vs. Darbietung
Slam-Beiträge beinhalten einen gesprochenen Text und die Art und Weise, wie dieser präsentiert wird. Lassen sich diese beiden Ebenen analytisch und/oder rezeptiv trennen? Inwieweit ist dies notwendig? Wird ein Slam-Beitrag dadurch erfolgreicher oder weniger erfolgreich, dass diese beiden Ebenen besser zusammenspielen? Oder ist gerade das Gegenteil der Fall?
3. Eventualität vs. Speicherung
Einerseits zeichnen sich Slams durch ihre raumzeitliche Singularität ab; andererseits gibt es deutliche Bestrebungen, Slam-Texte und Auftritte in Form von Videos, Büchern, Audio-Mitschnitten, DVDs, CDs usw. zu speichern und weiterhin zur Verfügung zu stellen. Inwiefern stellt dies die erwähnte Singularität von Slam infrage? Lässt sich in einem Moment, in dem ein Slam nicht mehr live und vor Ort erlebt werden kann, noch von Slam sprechen?
4. Interaktivität vs. Monokommunikativität
Spricht der Autor nur mit dem Publikum? Oder spricht es auch zurück? Wie weit ist es mit der vielgepriesenen Rückkopplung zwischen Publikum, Slammaster und Slammer tatsächlich her? Reicht die Tatsache, dass das Publikum (oft nur als repräsentative Jury) den Vortrag bewertet, schon aus, um von Interaktivität zu sprechen? Eine dazugehörige Frage: Steht die Feier der Gemeinschaft im Mittelpunkt (wie es Slampapi Marc K. Smith wünscht und fordert) oder diejenige des einzelnen Poeten? […]
5. Agonalität vs. Demokratisierung
6. (Selbst-)Inszenierung vs. Authentizität
7. Abgeschlossene Slamily vs. Durchlässigkeit zu anderen Szenen
8. Kulturindustrieller Kommerz vs. Subkulturalität
9. Poetry Slam vs. Slam Poetry
10. Pädagogisierung vs. Gegenstaatlichkeit
11. Spektralität der Beiträge vs. Monokulturalität
12. (Post-)Avantgarde vs. Epigonalität
13. Professionalisierung vs. Laienkultur
14. Erwartbarkeit vs. Improvisation
15. Freiheit von Kunst & Kultur vs. Evaluierbarkeit ästhetischer Ereignisse
Toll!
Merci, ist ein Anreiz, das mal fertigzudenken.